Mehr Flexibilität für die Mehrwertsteuer

Der Rat der EU hat am 5. April 2022 eine Richtlinie zur Modernisierung der EU-Mehrwertsteuersätze erlassen. Mit den neuen Vorschriften sollen die Regierungen mehr Flexibilität in Bezug auf die anwendbaren Steuersätze erhalten. Zudem verankert man den Gedanken der Nachhaltigkeit erstmals auch im europäischen Mehrwertsteuerrecht. Für die neue Bundesregierung entstehen neue Spielräume, die es zu nutzen gilt.

Die bisherigen Bestimmungen über die EU-Mehrwertsteuersätze waren fast 30 Jahre alt. Schon seit Langem war klar, dass diese einer Modernisierung bedürfen. Insbesondere die Themen digitale Wirtschaft und Klimawandel wurden bisher kaum berücksichtigt. Moniert wurde zudem die zu geringe Flexibilität der Regelungen. So war in vielen Fällen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich, wenn einzelne Mitgliedstaaten etwa die Förderung bestimmter Wirtschaftszweige in ihrem Land für notwendig erachteten und einen ermäßigten Steuersatz für Leistungen gewähren wollten. Auch führten historische Ausnahmeregelungen für bestimmte Mitgliedstaaten zu Ungleichbehandlungen: Während einige Mitgliedstaaten ermäßigte Steuersätze oder Nullsteuersätze auf bestimmte Leistungen anwenden durften, waren andere hiervon für dieselbe Art von Leistung ausgeschlossen.

Bisher galt innerhalb der EU ein Mehrwertsteuernormalsatz von mindestens 15 % auf alle Gegenstände und Dienstleistungen. Die Mitgliedstaaten konnten zudem einen oder zwei ermäßigte Steuersätze von mindestens 5 % auf klar definierte Gegenstände und Dienstleistungen anwenden.

Reformüberlegungen der EU-Kommission

Erstmals stand die Aktualisierung der Regelungen in dem 2016 bekannt gegebenen Mehrwertsteuer-Aktionsplan auf der Agenda der EU-Kommission. Ein Anfang 2018 präsentierter Vorschlag beinhaltete dann die Abschaffung der Liste für die ermäßigten Steuersätze und die Einführung einer Negativliste mit Gütern, auf die keine ermäßigten Steuersätze angewendet werden dürfen (z. B. Alkohol, Tabak, Waffen). Den Mitgliedstaaten wäre dadurch bei der Festlegung der Mehrwertsteuersätze größerer Spielraum eingeräumt worden. Der Gedanke der Nachhaltigkeit stand damals nicht im Vordergrund.

Richtlinie berücksichtigt Nachhaltigkeit

Die nun erlassene Richtlinie beruht auf einem Entwurf der EU-Finanzminister im Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN) vom 7. Dezember 2021, der vom Vorschlag der EU-Kommission abwich und völlig neue Motive in das europäische Mehrwertsteuerrecht einführte. Der Rat begründete seinen Richtlinienentwurf ausdrücklich mit den Zielen des Klimaschutzes und öffentlichen Gesundheitsschutzes. Er plante, die Liste an Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Steuersätze angewendet werden können (Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie), diesbezüglich speziell zu ändern. In dem Richtlinienentwurf ging der Rat davon aus, dass der Rechtsrahmen für die ermäßigten Steuersätze mit anderen Maßnahmen der EU kohärent sein muss und griff Initiativen im Bereich des Gesundheitsschutzes und zur Bewältigung des Klimawandels auf. Der Rat stützte sich hier insbesondere auf das „EU4Health-Programm“ (EU-Verordnung 2021/522) und das von der EU-Kommission am 11. Dezember 2019 vorgestellte Konzept eines „Grünen Deals“. Die Überlegungen des ECOFIN-Rats wurden nun in der Richtlinie zur Änderung der EU-Mehrwertsteuersätze vom 5. April 2022 umgesetzt. Dabei hält man an der bisherigen Systematik eines Normalsteuersatzes von 15 % und bis zu zwei ermäßigten Steuersätzen mit mindestens 5 % fest, die dann allerdings nur noch auf 24 der 29 in Anhang III aufgelisteten Leistungen anwendbar sein dürfen. Die Liste an Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Steuersätze angewendet werden können, wird an die Ziele der EU zum Klimaschutz und des öffentlichen Gesundheitsschutzes angepasst. Spätestens ab dem Jahr 2030 müssen die Mitgliedstaaten auf fossile Brennstoffe, Erdgas, Brennholz etc. den Normalsteuersatz von 15 % erheben. Ab spätestens 2032 sollen zudem ermäßigte Steuersätze auf chemische Schädlingsbekämpfungs- und Düngemittel wegfallen. Stattdessen werden Steuersatzermäßigungen und/oder -befreiungen auf folgende Leistungen ermöglicht:

  • Medizinische Schutzausrüstungen,
  • Atemschutzmasken,
  • notwendige Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung,
  • digitale Dienstleistungen wie Internetzugang und Live-Streaming von Kultur- oder Sportveranstaltungen,
  • (E-)Fahrräder,
  • ökologische Heizsysteme und Solarpaneele, die in Privathaushalten und öffentlichen Gebäuden installiert werden und sich positiv auf den Klimaschutz auswirken können.

Außerdem ist eine Regelung vorgesehen, durch die Mitgliedstaaten künftig in Krisensituationen (z. B. Pandemien und Naturkatastrophen) rasch Steuerbefreiungen auf Leistungen an Katastrophenopfer einführen können. Damit ermöglicht es, die Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht nur flexibel auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren, sondern gibt ihnen auch Möglichkeiten an die Hand, ökologisch sinnvolles Verhalten der EU-Bürger zu fördern.

Handlungsspielräume für die neue Bundesregierung

Die neue Richtlinie trat am 6. April 2022 in Kraft. Damit ist die Grundlage für eine Umsetzung in das nationale Umsatzsteuerrecht geschaffen. Angesichts der im Koalitionsvertrag genannten Vorhaben der neuen Bundesregierung dürften zahlreiche der geplanten Regelungen auch Eingang in das deutsche Umsatzsteuerrecht finden.

Gastautor

Dr. Sandro Nücken, LL.B., ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht und Partner bei Ebner Stolz in München. Er ist spezialisiert auf die umsatzsteuerrechtliche Gestaltungsberatung, Betreuung bei Betriebsprüfungen, Führung von Einspruchs- und Klageverfahren sowie die Begleitung von M&A-Transaktionen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der umfassenden Betreuung von mittelständischen Unternehmen, insbesondere im internationalen Kontext. Herr Dr. Nücken ist Mitglied des International VAT Club und Autor zahlreicher umsatzsteuerrechtlicher Fachveröffentlichungen.

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